Im Jahr 1997 hat der Wuppertaler Medizinprofessor Dr. Johannes Köbberling seine Eröffnungsansprache als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin unter das Thema „Der Wissenschaft verpflichtet“ gestellt. Dieser Grundsatz ist seither in vielen Bereichen der Medizin quasi in „Fleisch und Blut“ übergegangen. Bei Fortbildungsveranstaltungen werfen sich die Ärzte „Signifikanzen“ und „Konfidenz-Intervalle“ um die Ohren, dass man denken könnte, bei einem Kongress von Mathematikern zu sein. Die Ergebnisse von den großen Pharmastudien werden unmittelbar nach der Präsentation oder Veröffentlichung nicht nur der Fachwelt, sondern auch in vielen Publikumsmedien berichtet. Nur wenn überzeugende wissenschaftliche Ergebnisse vorliegen, hat das jeweilige Medikament überhaupt eine Chance auf dem Markt. „Der Wissenschaft verpflichtet“ ist somit zum Erfolgsfaktor geworden!
Im Gegensatz dazu werden in anderen Bereichen der Medizin, wie z. B. der Ernährungswissenschaft, neuste Ergebnisse nicht oder nur sehr unzureichend kommuniziert. Hier würden neuste wissenschaftliche Erkenntnisse bei Firmen der Nahrungsmittelindustrie eher zu negativen Auswirkungen führen. So wird das Dogma einer Fett-reduzierten Ernährung kontinuierlich kommuniziert, obwohl die Wissenschaft hier seit Jahren zu komplett anderen Ergebnissen gekommen ist. So hat das American College of Cardiology – eine der renommiertesten wissenschaftlichen Fachgesellschaften für Kardiologie – im letzten Jahr noch einmal in einer Übersichtsarbeit gezeigt, dass es keine Zusammenhänge zwischen den „bösen“ gesättigten Fetten und Herzinfarkt gibt und ein erhöhter Konsum dieser Fette sogar vor Schlaganfällen zu schützen scheint. In den Medien werden diese und andere wichtige Befunde nicht oder nur sehr selten kommuniziert! Zu stark scheint die Lobby der Nahrungsmittelindustrie zu sein, die Produkte mit einem niedrigen Fettgehalt vermarktet – die sogenannte Low-Fat-Industrie. Ähnlich verhält es sich mit der Künstliche-Süßstoff-Industrie, die entsprechende Light-Getränke als gesunde Alternative zu Zucker-gesüßten Softgetränken vertreibt. In unheilvoller Allianz mit anderen Interessengruppen wurde Zucker als die wesentliche Ursache für die steigenden Zahlen an Übergewicht und Fettsucht verantwortlich gemacht. Ohne Zweifel ist Zucker zu meiden, doch wer weiß schon, dass ein Glas Orangensaft genauso viel Zucker enthält wie ein Glas Cola? Und klare wissenschaftliche Ergebnisse, dass man mit Light-Getränken Gewicht abnehmen kann, fehlen ebenfalls. Auch der viel diskutierte Nutri Score ist mit „Der Wissenschaft verpflichtet“ kaum in Einklang zu bringen, wenn Orangensaft mit einem „B“ und Cola mit „E“ bewertet wird. Auch Gummibärchen schneiden in diesem Bewertungssystem besser ab als Olivenöl, für das eine günstige Wirkung auf die Herzinfarktrate in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wurde.
Das Ignorieren der Wissenschaft im Bereich der Ernährung hat weitreichende Folgen: Die steigende Zahl an Übergewicht bzw. Fettsucht und die dadurch ausgelösten Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Typ 2 Diabetes werden in den kommenden Jahren auch bei uns Ausmaße erreichen, die unser Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen wird. Diese beiden Erkrankungen sind neben Zigarettenrauchen die wesentlichen Risikofaktoren für Herzinfarkt und Schlaganfall. In den USA ist bereits heute mehr als ein Drittel der Bevölkerung fettsüchtig, für das Jahr 2030 ist prognostiziert, dass jeder zweite einen BMI über 30 kg/m2 hat. In Deutschland haben wir noch nicht einmal aktuelle Daten, die letzte systematische Erhebung – die sogenannte Nationale Verzehrstudie – stammt aus dem Jahr, in dem Angela Merkel zum ersten Mal zur Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde.
Haben wir dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen? Wenn wir ganz realistisch die Macht der Interessengruppen und die Hilflosigkeit der Gesundheitspolitik betrachten, müssen wir uns geschlagen geben. Wir können gegen den Flächenbrand von Erkrankungen, die durch Übergewicht und Fettsucht ausgelöst werden, nichts entgegensetzen. Wahrscheinlich bleibt uns nichts übrig – wie bei Großfeuer – große Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf die gesundheitliche Prävention aufzugeben und die Gelder dann sehr fokussiert beim Neuauftreten von Lebensstil-bedingten Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Typ 2 Diabetes einzusetzen. Denn hier gibt es sehr gute wissenschaftliche Daten, dass ein Großteil der Betroffenen diese Erkrankungen durch eine konsequente Änderung des Lebensstils erfolgreich ohne Medikamente behandeln oder sogar besiegen kann.
Die im Juli 2017 erstmalig erschienene Kolumne „Rezept-frei“ ist ganz eindeutig „Der Wissenschaft verpflichtet“, denn hier werden nur medizinische Studien den Lesern der NRZ präsentiert, die nach einem Begutachtungsprozess in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert wurden. Diese ehrenamtliche Tätigkeit hat mir über die nun 400 Ausgaben sehr große Freude bereitet und ist in das kürzlich erschienene Buch „Wie Insulin uns alle dick oder schlank macht“ mit eingeflossen. Ich habe anhand der Vielzahl an Rückmeldungen erfahren, dass das Interesse an Wissenschaft groß ist, das motiviert für die kommenden 400 Ausgaben von Rezept-frei.